BERND LERNT


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Posted by Richard West on March 31, 1998 at 17:59:22:

Irgendwie ... war sie ja immer nett. Was für ein entsetzlicher Gedanke: erstens "irgendwie" und zweitens "immer" ... was für eine verdammt ambivalente Begründung, jemanden in die positive Kategorie einzustufen. Irgendwie ... igitt! Bernd konnte sich selbst nicht leiden, wenn er so dachte. Aber es half ja nichts - immer, wenn er in den chat kam, war “Erika24” gleich freundlich - ausgeglichen wie das Torverhältnis von Schalke 04 und nett wie Frank Elstner, wie er publikumswirksam steril in die Kamera grinst.
Hundertmal hatte er schon mit ihr Zeilen gewechselt. Und ebenso oft über nichts gesprochen. Dennoch, keine Chance: wenn er nicht gerade seinen inkognito-nick benutzte, kam ihm ihre Begrüßung beinahe schon entgegen, bevor das Formular fertig aufgebaut war. Bermd hatte es, wäre er ehrlich gewesen, gründlich satt mit ihr zu chatten. Aber er war eben nicht ehrlich sich selbst gegenüber. Konnte es nicht.
Bernd hatte noch nie jemandem bewusst weh getan. “Das tut man nicht, wenn sich jemand Mühe gibt”, war sein Standardsatz, der für ihn ausreichend begründete, warum man Menschen nicht vor den Kopf stossen durfte, die einem kein Leid zugefügt hatten. Auf den Gedanken, was ihm letztendlich dabei blieb - was denn mit anderen Menschen geteilt werden konnte, wenn er immerzu gab ohne nehmen zu können, kam er schlicht nicht.
“Hi Bernd *freu* wie geht’s” - wie sollte es auch anders sein. Gut ging es ihm. Wie sollte es ihm auch schlecht gehen gegenüber dieser immer gut gelaunten Frau von 24 Jahren, die ihn heute begrüsste wie an fast jedem anderen Tag, den er in seinem Stamm-chat verbrachte. Er versuchte sie mit ein paar knappen Worten auf Distanz zu halten, widmete sich den anderen chattern mehr als ihr. Eine “Chanel” gefiel ihm besonders gut. Der freche Schreibstil und ihr Charme imponierten ihm. Ein paar nette Flüsterzeilen quittierte “Chanel” mit deutlichem Amusement - immer ein ganz klein wenig Spott in der Stimme. Oder war es doch ein Zwinkern?
“Bernd, hast Du Lust auf ein Plauderstündchen im Sep?” Erikas Frage ernüchterte ihn. Hätte doch nur dieser freche Feger “Chanel” so ein Angebot gemacht. Aber die war soeben mit diesem Primitivling “rammbob” im Sep verschwunden. Geschah ihr recht, wenn sie offensichtlich nicht einschätzen konnte, wer in diesem channel Niveau und Erziehung hatte. Und jetzt? - Na gut, also auf zum nächsten “Hach, was sind wir nett-Sep” mit “Erika24”. Immer noch besser, als im offenen chat keinen Anschluss zu finden.
Zwanzig Minuten später: Er hatte es ja geahnt! Das Gespräch schleppte sich mehr recht als schlecht dahin. Von dem ach so wichtigen gestrigen Abend berichtete sie. Ihre Freundin hatte Probleme mit dem Ehemann, beide Mädels kochten “etwas ganz aussergewöhnlich Gutes, das aus einem indischen Kochbuch stammt” - business as usual, gähn as gähn can. Bernd latschte immer mal wieder ein “ach ... wie interessant” oder “das kann ich mir gut vorstellen” in sein Keyboard und langweilte sich ansonsten zu Tode in diesem trist-Sep mit der netten Erika.
Als plötzlich eine Flüsterzeile erschien, schaute er zunächst etwas verdutzt. “Hi du, cooler Nick, Lust auf ein heisses Sep?” stand da. Wer zur Hölle war denn die? Den Nick “Ignoressa” hatte er noch nie irgendwo gelesen, konnte sich jedenfalls nicht erinnern. Bernd schwankte zwischen Ärger, weil er es hasste, wenn ihm jemand ins Sep flüsterte, und Bewunderung über den Mut dieser Unbekannten. “Ich bin doch schon in einem Sep - soll ich mich teilen?”, schrieb er zurück, halb hin-, halb hergerissen von dem Angebot. “Das ist mir egal ... schick sie ins Bett und gib mir Sex”, kam die prompte Antwort von “Ignoressa”.
Bernd überlegte und hielt Erika, die eh nicht besonders anspruchsvoll war, zwischendurch mit ein paar Zeilen bei Laune. War ja eigentlich nicht sein Stil, jemanden aus dem Sep zu komplementieren wegen einer anderen. Noch dazu, wo dieses freche Teil einfach ins Sep geflüstert hatte. Andererseits reizte ihn die Aussicht auf einen heissen chat gewaltig, und “Ignoressa” schien es faustdick hinter den Ohren zu haben. Ja, sagte er sich: Bevor ich mich hier langweile ... Fieberhaft suchte er nach einem Ausweg, um Erika möglichst schonend loszuwerden und das Gesicht nicht zu verlieren. “Warte einen kleinen Moment auf mich ...”, bat er die Frau der sexuellen Verheissungen und erklärte Erika kurz darauf, dass er jetzt doch sehr müde sei und wirklich schlafen müsse. Das “ooooch, schade” quittierte er mit einem lakonischen “... ist ja nicht aller Tage Abend, Erika ...” und war froh, als er das Sep verlassen konnte.
Jetzt musste es schnell gehen. Raus aus dem chat, Nick wechseln - und wieder rein. Zwei Minuten später hatte er bereits ein neues Sep eröffnet, erklärte “Ignoressa” über eine Flüsterzeile den Identitätswechsel und lud sie ein. Nur Sekundenbruchteile später kam sie rein: “Hey, hast Du immer noch was an? *frechgrins*” hiess gleich ihre erste Zeile. Puhhh, das kann ja heiter werden, dachte sich Bernd und es wurde merklich wärmer im Zimmer. So schnell konnte er kaum umschalten nach dem öden Talk mit Erika.
Er schmunzelte vor seinem Bildschirm und bekam durch ihre nächsten drei Beiträge ein deutliches Flackern in die Augen. War das eine Hexe!!! Ihre Zeilen strotzten nur so vor Erotik und Verlangen - aber sie blieb immer in einem Ton, der die Situation nicht peinlich machte. Bernd war hellwach jetzt. Als sie ihre lachsfarbenen Dessous beschrieb und die langen halterlosen Strümpfe, kribbelte es überall. Er schaute elektrisiert auf den Monitor.
Fast eineinhalb Stunden später lag er seiner “Ignoressa” zu Füssen. Solch ein Sep hatte er noch nie erlebt: Pure Erotik! - Diese Frau machte ihn wahnsinnig! Bernd wusste kaum noch, wie im geschah. Gab es sowas wirklich? Und noch dazu wohnte dieses Bündel aus Sinnen nur 60 Kilometer von ihm entfernt. Nach ihrer Selbstbeschreibung war sie zumindest eine sehr gutaussehende Person. Die Konsequenz war glasklar: “Hey, Du bist ein echter Hammer”, schrieb er, “Dich will ich unbedingt real kennenlernen und so schnell wie möglich.”
Bernd wollte es nicht fassen und mußte zweimal hinschauen, bevor er es wirklich glauben konnte: “Ja, warum nicht ... vielleicht morgen Abend oder so?”, stand da tatsächlich hinter ihrem rosaroten Nick. Gut, dass man mit der Tastatur nicht stottern kann, schoss es ihm durch den Kopf, und der Hauch eines Lächelns über sich selbst stahl sich ihm ins Gesicht. Bernd packte die Chance beim Schopf: “Ja, sehr gerne”, sah er sich schreiben und verabredete sich für den kommenden Abend mit ihr in einer Kneipe auf etwa der halben Distanz zwischen beiden Wohnorten. Sein blauer Pulli mit der Harley Davidson vorne drauf sollte das Erkennungzeichen sein. “Und was hast Du an”, wollte er von ihr wissen und schluckte schon, bevor die Antwort erschien. “Na, einen kurzen Rock mit was Hübschem drunter oder so!?! Wäre das dem Herrn recht?”, giggelte sie.
Den ganzen nächsten Tag konnte Bernd kaum einen klaren Gedanken fassen. Seine Arbeit erledigte er auf einer rosaroten Wolke schwebend und hatte ständig ein scheinbar vollkommen unmotiviertes Grinsen auf dem Gesicht, das seine Kollegen schon zu heiteren Kommentaren animierte: “He, Bernd, neue Freundin aufgerissen? Ja, neue Besen kehren besonders gut, wie?” Bernd quittierte die Frage mit einem breiten Grinsen und beliess es dabei.
Abends wurden seine Hände noch feuchter als tagsüber schon. Er stylte sich auf so gut es ging, vergaß nicht den Harley-Pulli anzuziehen und war schon 20 Minuten vor der Zeit in der vereinbarten Kneipe. Hastig trank er ein Bier, versuchte sich zu beruhigen. Seine Körpertemperatur nahm dennoch kontinuierlich zu, er rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her.
Um geau drei Minuten nach neun - er wusste das genau, hatte in 23 Minuten hundertmal auf die Uhr gesehen - ging die Tür auf. Das MUSSTE sie einfach sein!!! Kirschroter Mund, lange braune Haare und wirklich rassige Beine, die unter dem Rock hervorschauten, der für seinen Geschmack noch eine Idee zu lang war. Sie schaute sich kurz um, musterte die wenigen Gäste im Raum, lächelte und kam schnurstracks auf ihn zu. Bernd grinste nervös und stand auf. Andere hätten ihr Aussehen vielleicht nur als durchschnittlich bezeichnet, aber Bernd war sein eigener Trieb an diesem Tag - das kochend heisse Sep vom Vorabend hatte ihn noch vollkommen in seiner Gewalt.
“Hi, schön das Du gekommen bist, ich bin Bernd”, brachte er etwas heiser und unbeholfen gerade noch heraus, als er sie begrüßte. Sie setzte ihr schönstes Lächeln für ihn auf und strahlte ihn an: “Grüss Dich Bernd, schön, Dich endlich real kennenzulernen, ich bin Ignoressa”, zwinkerte sie ihm vielversprechend zu. “Endlich ...?”, stammelte er und fügte dann etwas lockerer hinzu, “Du kannst es wohl gar nicht abwarten, wie?”
“Doch”, sagte sie leise lächelnd, “Ignoressa hätte schon gekonnt - aber Erika nicht ....”


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