Von Querköpfen zu Sprengköpfen


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Posted by Richard West on April 30, 1998 at 19:51:17:

In Reply to: ................jeder leider noch immer für sich selbst....:-( posted by YIN on April 30, 1998 at 09:38:07:

Ja, Yin, Du hast ein Thema angesprochen, das uns alle bewegt. Unsere Hilflosigkeit gegenüber der Trägheit der nötigen Veränderung erscheint grenzenlos. Das kann bremsen, sogar blockieren kann es.
Aber muss es das? Ist es wirklich die einzige Alternative, nur unsere Lebenserwartung der 60, 70 oder 80 Jahre als Maßstab gelten zu lassen? Haben wir nicht vielleicht doch das, was man den Generationenvertrag nennt? Sind wir nicht verantwortlich für den Lebensraum unserer Kinder und Enkel?´Wir sind, ob wir wollen oder nicht, verpflichtet, den grossen Rahmen nicht aus den Augen zu verlieren. Veränderungen bestehender Mißstände sind kurzfristig schwer möglich - und ich verstehe Deine ungaduld um so besser, als wir alle Ressourcen auch dafür hätten, wenn unsere Bequemlichkeit und das Festhalten am Überkommenen nicht so stark wären. Das regt mich auch oft auf, und ich frage mich, warum wir Erkenntnisse, die wir längst verinnerlicht haben, nicht endlich in die Tat umsetzen. Die Trägheit ist frustrierend - stimmt!
Andererseits haben wir aber doch weitreichende Veränderungen gerade in den letzten Jahren erlebt, die plötzlich, einem Vulkanausbruch gleich, bestehende Situationen knallhart umgekrempelt haben. Denk' nur an den Fall der mauer oder die rasend schnelle Mutation von Südafrika oder der UdSSR. Das sollte uns deutlich vor Augen führen, dass Einigkeit im Bestreben stark macht und in der Lage ist, den misslichen Status Quo von einem Tag auf den anderen zu modifizieren.
Es ist vielleicht zu spät, nur allein auf das Modell der Evolution zu setzen - insofern gebe ich Dir recht, weil die Probleme längst zu drängend geworden sind, um auf reine Veränderungen der weichen Form von unten nach oben zu warten. Besserung ist vielleicht nicht mehr ohne gewalttätige Formen der Veränderung möglich - mag schon sein. Deswegen frage ich mich oft, wo der Aufschrei bleibt! Der Aufschrei insbesondere der jungen Generation, die nicht nur von Natur aus das Protestpotential in sich hat, weil weniger Rücksichten gesellschaftlicher Art verlangt (und möglich) sind, sondern auch die Wut am bestehenden Mißstand zu rütteln, sich eben nicht abzufinden mit dem Satz der angeblich Erwachsenen: "Das ist eben so ..."
Es kann doch nicht angehen, dass z.B. die Studenten - von jeher die vermeintlich intellektuelle Elite der Gesellschaft, die ungebunden schreien darf (siehe 1968) - sich nur noch für ihre Studiengebühren auf die Strasse wagen, obwohl sie erkennen, dass es unendlich viel mehr bedrohliche Probleme auf unserem Plantehn gibt. Sind wir so satt, dass wir der täglichen Umweltzerstörung taten- und wortlos zusehen, ohne auf die Idee zu kommen, Steine in Schaufenster zu werfen aus purer hilfloser Wut? Nicht einmal das geht mehr in dieser Gesellschaft des Konsums und der Besinnungslosigkeit?
Sind wir inzwischen so weit abgestumpft, dass wir die Zerstörung des lebensraums unserer Kinder einfach klaglos hinnehmen und maximal am Stammtisch maulen und zetern? Können wir wirklich klaglos jetzt schon akzeptieren, dass uns die nächste Generation mit Recht auf die Anlkagebank setzt und fragen wird: "Und was hast DU getan?"
Es ist nicht zu verstehen, dass immer noch Millionen Menschen Parteien wählen, die keinen, auch nicht den geringsten, Ansatz erkennen lassen, die richtigen Fragen zu stellen, seine sie noch so unbequem. Von den richtigen unbequemen Antworten ganz zu schweigen. Ganz Deutschland regt sich darüber auf, dass jetzt 13% eine vollkommen inakzeptable DVU in Sachsen-Anhalt gewählt haben. Ich wundere mich eher darüber, dass es NUR 13% waren. Natürlich ist rechtsradikal keine Alternative. Selbstverständlich nicht. Menschenverachtende Parteien (und das ist die DVU zweifellos) haben in einem demokratischen Spektrum nichts verloren. Es sei denn, sie können mit ihren Wahlstimmen aufzeigen, wie sehr unsere Gesellschaft nach einem Umbruch verlangt. Das war damals bei den Grünen - und noch früher bei der APO - genauso.
Inzwischen wünsche ich mir Provokation, ja sogar eine gewisse Form der Anarachie - weil unsere verkrusteten Strukturen sonst nicht meh aufzubrechen sind. Dein Beitrag zeugt von Resignation, die fehl am Platze ist. Entweder glaube ich an eine bessere, gerechtere und humanere Zukunft und kämpfe dafür - oder ich gebe mir morgen die Kugel. Beides ist legitim. Wo ist die dritte Möglichkeit, die ich nicht sehe?
"Nach mir die Sintflut ..." ist kein Motto, dass ich einem denkenden menschen durchgehen lassen kann. Deswegen sind Grundsätze gefragt. Eine gesellschaft, die ganz oder auch nur mehrheitlich aus Wesen ohne Grundsätzen besteht, ist eigentlich überhaupt keine Gesellschaft. kampf ist Pflicht, wen wir nicht heute resigniert aufgeben wollen. Oder, mit Hellmut Walters gesagt: "Jede Gesellschaft braucht - zunächst Querköpfe. Und später, wenn sie es verdient hat, Sprengköpfe." Was sie nicht braucht, sind resignierte Menschen, die in den Tag hinein leben mit dem Motto: "Ich kann eh nichts ändern ..." - und das sagt Richard West ... mit allem Bewußtsein und aller Wut, zu der er noch fähig ist.


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