zu: Cabaret-Beitrag


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Posted by Richard West on May 01, 1998 at 18:10:06:

In Reply to: Re: Von Querköpfen zu Sprengköpfen posted by Cabaret on May 01, 1998 at 17:09:59:

Hallo Cabaret,

danke für das dicke Lob! Gestatte mir ein paar Anmerkungen, bitte.
Ich bin es sicher nicht, der der Gewalt das Wort redet. Dennoch ist sie Teil der menschlichen Natur (oder schlicht: der Natur). Meine Absicht ist es wahrlich nicht, Gewalt als Mittel zur Veränderung zu rechtfertigen oder sie gar herbeirufen zu wollen. Gemeint war und ist etwas anderes. Aber zunächst, lies bitte den betreffenden Absatz meiner vorigen Intervention nochmal. Ich habe ihn kopiert, um Dir Arbeit zu ersparen:

"Es kann doch nicht angehen, dass z.B. die Studenten - von jeher die vermeintlich intellektuelle Elite der
Gesellschaft, die ungebunden schreien darf (siehe 1968) - sich nur noch für ihre Studiengebühren auf die
Strasse wagen, obwohl sie erkennen, dass es unendlich viel mehr bedrohliche Probleme auf unserem
Planeten gibt. Sind wir so satt, dass wir der täglichen Umweltzerstörung taten- und wortlos zusehen, ohne
auf die Idee zu kommen, Steine in Schaufenster zu werfen aus purer hilfloser Wut? Nicht einmal das geht
mehr in dieser Gesellschaft des Konsums und der Besinnungslosigkeit?"

Um Hilflosigkeit ging es hier und um Menschen, die in ihrer ohnmächtigen Wut gegen (angeblich) nicht änderbare zerstörerische Tendenzen Steine in Schaufenster werfen. Gewalt gegen Sachen und nicht gegen Personen, hiess mal die Parole, wenn Du Dich erinnern kannst. Und natürlich hast Du recht, wenn Du sagst, es gebe andere Mittel zur Veränderung als ausgerechnet Steine. Da sind wir einig. Aber fällt Dir nicht auch auf, dass der Protest in einer schleimig-sahnigen Mischung aus Konsum und Gleichgültigkeit versunken ist? Ich würde meine eigenen Schaufenster gern für ein paar Wurfgeschosse zur Verfügung stellen, wenn ich dafür ab und zu das Gefühl bekommen könnte, dass der Widerstand (wenn auch der ohnmächtige und mit den nicht adäquaten Mitteln) stärker wird.
Und generell: Veränderungen tiefgreifender Art gehen normalerweise nicht so gewaltlos über die Bühne wie beim Ende der DDR. Oft ist ein anarchischer Zustand unausweichlich die Folge, wenn alte Strukturen durch neue ersetzt werden. Das ist weder richtig noch falsch - es ist unausweichlich. Klar sind wir alle für Dialog und versuchen, den jeweiligen Gegner zu überzeugen. Aber auch das passiert ja nicht mehr. Studenten in den Industrieländern haben über viele Jahre als erste deutlich gemacht, was ihnen nicht passt. Und jetzt? Keine Demonstrationen, keine Spruchbänder, keine sit-in's, kein Zusammenhalt für nichts mehr. Als wäre die Welt endlich so, wie wir sie uns schon immer gewünscht haben. Das entsetzt mich! Und wo sind denn meine Abiturkollegen, die alle (ausnahmslos alle) ihre ureigenen Vorstellungen hatten von einer gerechteren Gesellschaft, die den Planeten für die kommenden Generationen nicht weiter zerstört: Mit dem fetten Hintern im Benz und nur noch besorgt um die Hypothek und die Aktienanlagen. Nicht einer ist geblieben, der deutlich und vernehmlich den Mund aufmacht.
Kann ja sein, dass ich der einzige Spinner bin, der seinen Idealismus nicht aufgeben kann. Aber noch glaube ich nicht daran, dass die schweigende Mehrheit automatisch die besseren Rezepte hat.

Und ein paar Zeilen zum Wahlverhalten.
Dazu muss ich zunächst erklären, dass ich ein viel zu politischer Mensch bin, um mich mit Parteipolitik zu befassen!
Nein, ich glaube auch nicht, dass Wahl-Abstinenz etwas besser macht. Kann mich auch nicht erinnern, so etwas gesagt zu haben. Und natürlich kenne ich auch das uralte Argument, dass man radikale Parteien stärkt, wenn die Wähler der gemässigten Fraktionen dem Urnengang fernbleiben. Aber abgesehen davon, musst Du Dich jetzt schon fragen lassen, was denn die bisherige Marschroute bewirkt hat. Das Ergenis gefällt niemandem - auch Dir nicht. Angesichts dieses scheinbar zementierten Status Quo, der uns ganz deutlich nicht weiter bringt, wünsche ich mir Veränderung beinahe um jeden Preis. Die Demokratie in vielen Industrieländern ist heute sehr stabil. So stabil, dass die Politik der einzelnen Parteien kaum noch auseinander zu halten ist. Mir wie Dir egal, ob im Herbst Köder oder Schrohl (oder wie die heissen) Kanzler wird. Gähnende Langeweile - an der Substanz wird sich nichts ändern.
Da gehe ich inzwischen lieber ein (hoffentlich kalkuliertes) Risiko in meinen Denkspielen: Lass' doch mal die Wahlbeteiligung bei 25 Prozent liegen! Nur dann, so scheint es, besteht eine Chance, dass mehr als einer wach wird und reagieren muss. Und wenn es dann unangenehme Umwälzungen gibt, dann sind es wenigstens wirkliche Umwälzungen. Es kann doch kaum schlimmer kommen. Immer wieder ein nicht funtionierendes System dadurch zu stabilisieren, dass Du und Millionen andere ein widerwilliges Kreuzchen aus Bürgerpflicht machen, kann es doch auch nicht sein. Und: Ich will Dich wirklich nicht ängstigen - aber eine äusserst geringe Wahlbeteiligung wäre ein lause Lüftchen gegen das, was ich zu meinem grossen Bedauern auf uns zukommen sehe. Hoffentlich irre ich mich.

Cabaret, ich danke Dir für Deine ermutigenden Zeilen. Hätte ich meinen Aufsatz nur für Dich geschrieben - es wäre die Sache mehr als wert.



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