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Posted by Jarreau on May 12, 1998 at 15:59:22:

Das war schon eine ungewöhnliche und einschneidende Neuerung: Von einem Tag auf den anderen bekam unser Hausarzt nur Geld, solange wir gesund waren. Im Krankheitsfall sah der Doktor keinen Pfennig und musste sich so bemühen, den Patienten so schnell wie möglich zu kurieren, damit die Einkünfte nicht ausblieben. Diese kleine, aber maßgebliche Änderung im Gesundheitssystem hatte durchschlagenden Erfolg. Ärzte waren plötzlich gezwungen zuzuhören, um festzustellen, was uns wirklich fehlt und begannen, die Ursachen zu kurieren, statt immer nur an den Symptomen herumzudoktern.
Überhaupt konnte man auf die Idee kommen, es sei das neue Zeitalter angebrochen, dass drei Jahrzehnte vorher bereits zwingend erforderlich gewesen wäre. Nicht nur die kaum noch vorhandenen Ölreserven des Planeten bewirkten, dass das Konzept Personenverkehr grundlegend geändert werden musste. Auch wegen der nicht mehr zu leugnenden Auswirkungen des Treibhauseffekts kamen allerorten alternative Energien zu einer Blüte, die sich die Umweltschützer zum Ausgang des 20. Jahrhunderts sehnlich gewünscht hatten.
Ein Blick auf den flachen Bildschirm an der Wand zauberte mir ein Schmunzeln auf das Gesicht: Das seit vielen Jahren in jedem Haushalt vorhandene Kommunikationsterminal zeigte im geschichlichen Rückblick eine Kuriosität. Eine Partei, die sich vor 30 Jahren “Die Grünen” nannte, hatte damals erhebliche Wahlstimmen eingebüsst, weil sie einen Spritpreis von 5 Mark pro Liter forderte. Längst lag der Preis jetzt um ein Fünffaches höher. Die restlichen Ölreserven waren wichtiger als Gold und wurden nur da sparsam eingesetzt, wo immer noch keine Alternative in Sicht war.
Der riesige Konzern, der kurz vor der Jahrtausendwende aus der Fusion von Daimler und Chrysler entstanden war, stellte öffentlich zugängliche Schwebemodule her, die keinerlei schädliche Rückstände mehr hinterliessen und automatisch ihre einmal programmierte Fahrtroute einhielten. Seltsam, dass sich das Wort “Fahrtroute” dennoch erhalten hatte, obwohl diese schwebenden Einheiten längst keine Bodenberührung mehr hatten, sondern geräuschlos wenige Zentimeter über dem Boden dahinglitten. Transport und Kommunikation - die beiden wichtigsten Sektoren der modernen Gesellschaft waren schon seit Jahren gratis für jedermann.
Natürlich hatte das nicht nur Vorteile. Durch die kleinen Plastikkarten, die überall benutzt
werden mussten, wurde alles nachvollzieh- und kontrollierbar. Beim Einkaufen, im Nah- und Fernverkehr, ja sogar im Finanzamt bezahlten wir mit diesen Dingern, die uns durchsichtig machten, und Datenschutz wurde zu einem riesigen Problem. Das beunruhigte alle - aber so recht fand niemand eine zufriedenstellende Lösung. Zwar war das Problem nicht mehr so gravierend wie früher, als es allerorten noch Parteien gab, die solche Informationen für ihre Zwecke einsetzten. Aber dennoch blieb ein flaues Gefühl im Magen.
Die Weltregierung - das zumindest musste man ihr lassen - gab sich alle Mühe, den Bürgern das Gefühl zu geben, wirklich die Interessen der Allgemeinheit zu vertreten. Sie war für die grossen, planetenumspannenden Probleme zuständig. Dieses Gremium kümmerte sich vorrangig darum, die Defizite aufzuarbeiten, die durch jahrzehntelang vernachlässigten Umweltschutz entstanden waren, bevor endlich der, der verschmutzte, wirklich und in voller Höhe dafür zur Kasse gebeten wurde.
In der Weltregierung wie in den kleineren Entscheidungsgremien der einzelnen Regionen sassen rund um den Globus jetzt Techniker und Experten, die sich um konkrete Problemlösungen bemühten. Das funktionierte recht gut. Parteiverdrossenheit der Bürger, entstanden durch die ewigen Streitereien der Politiker, hatte sich mehr und mehr in ein konstruktives Miteinander verwandelt. Statt über antiquierte Konzepte wie “links” und “rechts” zu streiten, die längst ausgestorben waren, wurde nun ernsthaft und fast ausschliesslich über praktikable Lösungen diskutiert.
Kopfschüttelnd verfolgten wir oft genug historische Dokumentationen auf dem Bildschirm. Wer sollte sich heute noch vorstellen, dass die Ausgaben für Verteidigung einmal um ein Vielfaches höher gewesen waren als die für Erziehung und Bildung? Lächerlicher Gedanke geradezu! Schulen, Kindergärten und das dichte Netz der Familien-Beratungsstellen genossen schon seit langem absolute Priorität, wenn es um die Verteilung der Finanzmittel ging. Verteidigung im eigentlichen Sinne war ja auch nicht mehr nötig, weil die Menschheit endlich, wenn auch viel zu spät, eingesehen hatte, dass nationale Streitereien niemanden weiterbrachten. Die kleine, aber schlagkräftige internationale Eingreiftruppe reichte vollkommen aus, um ab und zu irgendwelche Psychopathen zur vernunft zu bringen, die immer noch glaubten, ungestraft gegen die Menschenrechte verstossen zu dürfen.
Erstaunlich war das neue Selbstverständnis der Kirche. Die wachsende Spiritualität der Menschen, die anhand fataler Ergebnisse einsehen mussten, dass Haben kein Sein ersetzen kann, wurde von den Kirchen endlich in der richtigen Art und Weise kanalisiert. Man bestand nicht mehr so sehr auf einer doktrinären Glaubensrichtung. Jede Kirche hatte begriffen, dass Seelenheil eine universelle Sache ist, die keinen bestimmten Namen für eine Gottheit braucht.
Überhaupt konnte man nur staunen darüber, wie schnell die Bewohner aller Länder beinahe zu einer Planetengemeinschaft zusammengewachsen waren. Natürlich wurden die lokalen und regionalen Traditionen weiterhin gepflegt - mehr als noch zur Jahrtausendwende vielleicht. Aber dennoch gab es mehr Zusammenhalt zwischen den Völkern. Soziologen hatten zwei Erklärungen dafür: Erstens, so meinten sie, hätte die enorme Völkerwanderung aus den armen in die reichen Länder viel zur Vermischung beigetragen. Allein zwischen 2005 und 2015 hatten 120 Millionen Menschen aus den strukturschwachen Ländern der Welt die Industriestaaten überschwemmt.
Sie waren weder durch die Hochsicherheitsgrenzen der Europäischen Union aufzuhalten gewesen, noch hatten die USA oder Japan es geschafft, sich wirksam gegen den Zustom abzuschotten. Die Angst der Reichen bewirkte ein letztes Aufflammen des Nationalismus und etliche regionale gewalttätige Konflikte machten deutlich, dass die Verteilung der Güter so nicht weitergehen konnte. Das zwang die reichen Länder, die strukturschwachen Ländern endlich auf eigene Füsse zu stellen. Die Kredite wurden überprüft; Schulden, die durch Wucherzinsen entstanden waren, wurden erlassen - die Weltbank bekam den staatenübergreifenden Auftrag, die Sache koordiniert in die Hand zu nehmen.
Die zweite Erklärung der Verhaltensforscher für den neuen gemeinsamen Geist lag im unumgänglichen Zwang, die Umwelt zu erhalten. Erst als im Jahre 2022 die Niederlande zu einem grossen Teil unter den steigenden Wasserfluten verschwanden, die, durch den Treibhauseffekt an den Polkappen freigeworden, überall die Küstengebiete überfluteten, waren die Menschen wirklich aufgewacht. Vorher hatten etliche entsetzliche Tornados und andere Naturkatastrophen nicht gereicht, um die Aktionen für die Erhaltung des Planeten zum primären Ziel zu machen.
Nun aber zweifelte niemand mehr daran, dass alles unternommen werden musste, um dem ersten Paragraphen der Weltordnung - so etwas wie früher die Verfassung der Nationalstaaten - Genüge zu tun: “Die Erhaltung des Lebensraums geniesst absolute Priorität. Diesem Ziel sind alle anderen Aktivitäten auf dem Planeten unterzuordnen.” Die jungen Leute fragten sich natürlich, warum solch eine Definition nicht schon weit früher zur Maxime allen Handels erhoben worden war, und die meisten Eltern und Grosseltern mussten sich von ihren Kindern und Enkelkindern diesbezüglich schwere Vorwürfe gefallen lassen.
So recht verstand auch die ältere Generation nicht, wie man es so weit hatte kommen lassen können. Die meisten waren der Meinung, die fast ausschliessliche Festlegung der Menschheit auf rein wirtschaftliche Aspekte, mit allem Konsumismus, der das Ende des 20. und den Anfang des 21. Jahrhunderts bestimmt hatte, habe die Blickrichtung für die wesentlichen Dinge zu lange verstellt. Kopfschüttelnd hatten wir mit ansehen müssen, wie der Planet immer weiter zerstört wurde. Erst der weltweite Aufstand nach dem Holland-Desaster schaffte die wirkliche Umkehrung der fatalen Tendenzen.
Nun ging es langsam wieder bergauf. Natürlich gefiel es niemandem, kaum länger als eine halbe Stunde pro Tag im Freien zubringen zu dürfen. Die Ansagen aus unseren Hausterminals verkündeten täglich die entsprechenden Richtwerte. Aber was sollte man machen? Schliesslich hatten die Menschen ihre Umwelt über viele Jahrzehnte mit Füssen getreten, und das Weltklima erholte sich nur langsam. Immerhin: 96 Prozent aller notwendigen Energien waren sauber - vor 30 oder 40 Jahren hätte man die Energiegewinnung wohl als “alternativ” bezeichnet: Wind, Wasser, Sonne, Biomasse und andere Energieträger hatten längst Kohle, Öl und Kernkraft abgelöst. Man würde sich zwar noch jahrhundertelang mit den strahlenden Abfällen aus den früheren Kernkraftwerken abmühen müssen, nahm das aber fast fatalistisch hin.
Überhaupt war die Stimmung jetzt zwar längst noch nicht euphorisch, aber es gab immerhin eine Art Aufbruchsstimmung. Die Wut auf die Fehler der Vergangenheit - vor fünf Jahren noch toanangebend - war dem Ehrgeiz und dem Optimismus gewichen, eine bessere Zukunft aktiv und gemeinsam gestalten zu wollen. “Warum nur so spät”, fragten sich viele Menschen, und auch in den Medien wurde immer und immer wieder analysiert, wie sich die fatalen, weil zerstörerischen Tendenzen der Vergangenheit so lange hatten halten können.
Martin Steinfeld, angesehener Kommentarist eines grossen Nachrichten-Channels, glaubte die Begründung gefunden zu haben: “Wenn mehr Menschen die positiven Ansätze, die sie damals in ‘Biggy’s Forum’ in den primitiven Cyber-Zeiten des Internet publiziert worden waren, aktiv weitergetragen hätten, wäre uns viel erspart geblieben ...” - Daran muss es wohl gelegen haben. *smile*


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