Freundschaft mehr als Liebe ?


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Posted by Richard West on March 14, 1998 at 15:31:34:

In Reply to: Das ganz normale Chatter-Drama posted by RoteHexe on March 14, 1998 at 13:37:07:

Liebe RoteHexe,

es wäre jetzt ein Leichtes, Dir schlicht und einfach recht zu geben und zum nächsten Thema überzugehen.
Doch dann müßte ich akzeptieren, daß alles in Ordnung ist, weil es eben immer so ist. Und das widerspricht
mir schon im Ansatz so sehr, daß jetzt ein paar Zeilen folgen müssen.
Es gibt da einen so polemischen, wie (nach meiner Meinung) sehr gehaltvollen Satz, der lautet:

"Freundschaft ist viel mehr als Liebe"

Laß' uns gar nicht darüber diskutieren, ob diese Aussage wahr ist oder nicht. Jeder hat seine eigene Wahrheit,
und wir würden mit dem Gespräch sicher über 200 mails hinweg nicht "rund". Muß ja auch nicht sein.
Aber einen Gedanken zu Deinem Siebenzeiler, der die "DIN-Norm Chatter" sehr präzise wiedergibt, will ich im Sinne
des angeführten Zitats schon entwickeln. Und dabei erhebe ich keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit des Aspekts,
weil ich, nur z.B., auch darauf eingehen müßte, daß unsere Partnerwahl mehr und mehr dem allgemeinen
Konsumverhalten gleicht. Da das aber wohl unstrittig ist, möchte ich mich hier auf (mir) Wesentliches beschränken.

Wir alle treffen im chat viele Leute. Unsere Selektion zieht diejenigen heraus, die für uns wichtig sind - aus vielfältigen
Erwägungen. Alle diese Bekanntschaften geben uns Werte, die wir suchen: Bestätigung, Kritik, Zuneigung,
intellektuelles Futter oder einfach "nur" Unterhaltung.

Weil wir uns nach Nähe sehnen, liegt immer die Versuchung nah, mit demjenigen (derjenigen) mehr als nur ein
Verhältnis über bits und bytes aufzubauen. Aber: ist jeder dieser Versuche wirklich ein "mehr" ? Ist nicht auch hier
vielleicht oft weniger = mehr?

Es gibt mehr als eine interessante Frau, die ich im chat treffe. Und vielleicht lerne ich auch mehr als eine davon früher
oder später real kennen. Ein Ding der Unmöglichkeit, mit allen ein "festes Verhältnis" aufzubauen. Warum denn auch?
Haben wir es nicht alle oft genug geschafft, ein Verhältnis zu einem sehr besonderen Menschen durch die Alltäglichkeit
in Alltäglichkeit zu verwandeln? Wer hätte (um es zu simplifizieren) nicht schon einmal einen guten Freund/ eine gute
Freundin über das Bett verloren?

Das Medium Internet ist ein Werkzeug. Und alle Werkzeuge kann man positiv und negativ einsetzen. Da das Internet ein
very sophisticated tool ist, bietet es auch eine grössere Variationsbreite an positiven und negativen Verwendungsmöglichkeiten.
Wer in der Lage ist, sich durch den chat und mails einen Freundes- und Bekanntenkreis aufzubauen, der ihn/sie bereichert,
hat auf das richtige Pferd gesetzt. Auf der anderen Seite kann nur Schiffbruch erleiden, wer meint, sich eine "feste Beziehung"
nach der anderen über den Monitor besorgen zu können. Weil das unausweichliche Ende von Deinem Beitrag schon
konkret genug beschrieben wurde.

Loslassen ist also mal wieder das Thema - irgendwie kommen wir wohl an dem Wort nicht vorbei. ;-)
Freundschaften zu beginnen und sie zu pflegen, wirkliche Freundschaften, das geht über das Internet. Manche haben auch
den RL-Partner für's Leben im cyberspace gefunden. Aber das ist sicher nicht die Norm. Entfernung, Sozialstatus(denken) und
sooooo viele andere Beweggründe verhindern oft eine stabile Liebesbeziehung zwischen zwei chattern. Wohl dem, der dann
in der Lage ist zu abstrahieren, bevor es zu spät ist, damit ihm/ihr Dein Siebenzeiler (mindestens der letzte Teil *smile*) erspart
bleibt.

Freundschaft ist mehr als Liebe? Ja, für mich stimmt das! Freundschaft aufzubauen und zu behalten, ohne dass "Verliebtsein"
das Bindemittel ist. Dazu gehört vielleicht sogar mehr menschliche Qualität. Natürlich ist tiefe Liebe zu einem Menschen der
Idealzustand, unser ewiger Traum. Das ist aber erstens kaum zu bekommen, zweitens wohl nur zu EINEM Menschen zur selben
Zeit zu haben. Und im übrigen birgt das, wenn ein Zusammenleben das Resultat ist, das schon erwähnte Risiko der Alltäglich-
keit automatisch in sich. Nur wer jeden Morgen bewußtlos aufsteht, hat keine Angst davor.

Wenn wir also nicht zu jedem chatter(in) eine Liebesbeziehung haben können - und das nicht einmal "Vorteile" beinhalten kann -,
sollten wir es auch gar nicht versuchen, wo die Lage aussichtslos erscheint. Ein bißchen Selbstdisziplin und bewußter Verzicht
auf dieses Quentchen "mehr" (nicht eher weniger?) sind sicher für viele eher eine Bereicherung als die, von Dir schon beschriebenen,
Versuche, die nur Frust und Ent---täuschungen hinterlassen.

Dasselbe wollen, dasselbe nicht wollen - das erst ist Freundschaft.
(Sallust)

P.S.: Sagte ich schon, daß aus Freundschaft schnell Freundchat werden kann, wenn man ein bißchen nachlässig tippt?
Warum also nicht auch umgekehrt ;-)
Und warum soll das nicht mehr sein als eine kaputte Beziehungskiste ? *lächelt*


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