Die Suche nach der Wahrheit


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Posted by carina on March 16, 1998 at 16:59:42:

In Reply to: ...Liebe im Chat... posted by Gi@nna on March 16, 1998 at 03:27:51:

Hi, Du ! ( gefällt mir besser, als " hi er " )

Ich kenne sie selbst, die Jagd im Netz auf die wahre Identität von Menschen, die
sexuelle Themen nicht scheuen. Du und ich, wir sind fast "Branchenkollegen", deshalb
hat mich Dein Posting auch zum Antworten angeregt. Ich verlange allerdings kein Geld
dafür, und mein Engagement ist nur mein Freizeitvergnügen.
Ich verwende dafür auch nur ein einziges Pseudonym, gaukle niemand die große Menge an
verschiedenen weiblichen Wesen vor - ich denke auch, daß es wohl schwierig ist, in
vielerlei Gestalt aufzutreten. Manche Redewendungen sind nun mal sehr persönlicher Natur,
und spätestens dann, wenn das Gegenüber halbwegs helle ist (was ja bei Deinen Kunden
großteils nicht der Fall sein düfte - *grins*), kommen doch zumindest Zweifel auf.
Ich glaube, daß Du hier eine sehr schwierige Aufgabe hast, die zur Zeit auch ihre
Schattenseiten zeigt.

Ich hab' mich sehr gefreut über Dein Mail - hab' auch weder irgendwelche technischen
Möglichkeiten, noch Lust dazu, die Herkunft Deines Schreibens zu röntgenisieren.
Es reicht doch, wenn Du sagst, Du möchtest anonym bleiben - insbesondere, wenn wir beide
uns in irgendeiner mir anders bekannten Nickgestalt auch im Chat schon begegnet sind.

* schmunzel *

Du schreibst " Ich schäme mich " - aber das wirklich Beschämende an der ganzen Sache ist
die Doppelmoral, die in unserer Gesellschaft nach wie vor großen Raum einnimmt. Es ist
das abwertende offizielle Urteil anderer, die Dich zum Schämen veranlassen. Die fehlende
Akzeptanz zu Deinem Job, der wiederum kein Geld einspielen würde, wäre es nicht die
"verbotene Zone", in der Du agierst. Für Erfahrungsaustausch über die Bergwanderung vom
letzten Sommer wäre kein einziger Deiner Kunden bereit, Geld zu bezahlen. Nimm die Doppelmoral
also als notwendiges Übel, aber übernimm den Mechanismus nicht so weit an, daß Du selbst dafür
Scham empfindest. Oder - anders gesagt : Indem Du selbst Dich schämst, leistest Du einen weiteren
Beitrag zur Wirksamkeit des weitverbreiteten Ausgrenzens von Sexualität aus unserem täglichen Leben.
Scham und Angst und Verzweiflung sind überdies ansteckend...

Hoffentlich klingt das für Dich jetzt nicht abgehoben oder weltfremd - weißt Du, ich versuche, Dir Mut
zu machen, einfach ein wenig über den Dingen zu stehen. Und gleichzeitig weiß ich sehr gut, daß es die
fehlende Wahrheitsliebe in der Sache ist, die Dir zu schaffen macht.

Wie sehr war Deine Bekannte, für die Du jetzt Mitgefühl entwickelt hast, eigentlich informiert, daß sie
hier an einem kostenpflichtigen Spiel teilnimmt ? Ich denke, Ihr könnt doch nicht ahnungslosen Menschen per
Telefonrechnung das Portemonnaie leerzapfen. Zumindest weiß ich, daß es mich ruinieren könnte, wenn ich
0190-usw. von meinem Telefonapparat aus wähle und nicht spätestens nach 5 Minuten die Verbindung beende.

Lass' mich noch 'mal nachdenken über Dein Dilemma. Die Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen ist
Dir vertraglich strikt untersagt. Und trotzdem hat sich Dein Herz zu Wort gemeldet, als Du erlebt hast, wie
sehr diese Frau an "Dir" ( zumindest an dem von Dir konsequent dargestellten Pseudo) hängt. Aus der Sicht
Deiner Auftraggeber ein voller Erfolg, mit Menschlichkeit betrachtet eine Katastrophe. Das Herzensempfinden
lässt sich aber mit keinem Vertragswerk der Welt unterdrücken ( das gilt auch für die Ehe und das zahlreiche
Scheitern einer solchen ).
Gleichzeitig kannst Du aber nicht deutlich abschätzen, wie sehr die Frau tatsächlich Dich meint, angesichts der
Tatsache, daß sie sich von einem Profi hat beeindrucken lassen. Und was, wenn Du jetzt die Konsequenzen trägst,
Deinen Job aufgibst, Dich ganz auf sie konzentrierst, und in 14 Tagen ist dann einer Deiner Kollegen am Werk
und umgarnt sie neuerlich ?

Eine Entscheidung zu treffen birgt jetzt für Dich große Risken. Manchmal sind aber gerade die verzwicktesten
Begebenheiten die, die unser Leben radikal ändern helfen. Man sagt auch "aus der Bahn werfen", obwohl vieles
davon nur Gestaltungsreichtum bedeutet, zumindest aus einer späteren Perspektive und in der Rückschau.

Was kannst Du wirklich tun ?

Kannst Du halbwegs sicher sein, daß die Geschichte von der mittellosen Studentin, die jetzt ein Haus (!)
verkaufen muß, auch wirklich wahr ist ? Und wer verkauft wegen 23.000 DM Schulden ein Haus ? Warum überträgt
sie dieses Haus nicht per Schenkungsvertrag an ihre Eltern und lässt sich dann mittelloserweise fröhlich pfänden -
wenn sie sonst nichts besitzt ?

Weißt Du, es ist diese Unverhältnismässigkeit an der Sache, die mir zu denken gibt. Vielleicht weißt Du dazu mehr.
Kannst selbst klarer darüber nachdenken. Vielleicht liegt dort der Schlüssel zum Rätsel.

Ich wünsch' Dir alles Gute, Kof hoch !
Und wenn Du meine grauen Zellen wieder einmal in Deiner Sache in Gang setzen möchtest, dann meld' Dich wieder.

Ansonsten - leb' wohl und lass' Dir keine grauen Haare wachsen. Wer weiß, vielleicht werden wir in ein paar Monaten
über die Geschichte plaudern können ?

Herzliche Grüße
von


carina



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