Die Frau aus dem Chat - Versuch eines Einstiegs ins Thema


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Posted by Richard West on February 26, 1998 at 08:42:13:

Die Frau aus dem Chat

Der Versuch eines Einstiegs in unser Thema

Schon nach vier oder fünf Beiträgen in diesem Chatraum wurde ihm klar, daß da nicht irgendeine Frau am anderen Ende saß. Die Zeilen hinter dem violetten Namen sprühten vor Originalität. Frech, intelligent und sexy war sie, das konnte er deutlich spüren.
Er sprach sie freundlich an, flüsterte charmant ein paar Nettigkeiten und ein genüßliches Schmunzeln stahl sich mehr als einmal auf sein Gesicht, das gebannt auf den Monitor gerichtet war. “Wer zum Teufel ist denn die?”, fragte er sich fasziniert. Ein bißchen Stolz konnte er nicht verhehlen, weil ihm eine Frau, die ganz offensichtlich weit herausragte aus der Masse der Chatter, ihre ganz Aufmerksamkeit widmete.
Die Neugier fraß ihn. Ein wenig nervös fragte er sie, ob sie ihm in ein Sep folgen wolle. “Ja, sehr gerne”, kam die Antwort für ihn etwas überraschend - so schnell wie selbstbewußt. Im Cyberspace hinter verschlossener Tür tastete er sich vorsichtig durch den luftleeren Raum. Zu neugierig wollte er nicht erscheinen, konnte andererseits seinen Drang, mehr über diese faszinierende Frau zu erfahren, kaum im Zaum halten. Sie antwortete ohne Hast und ohne Vorbehalte. Es knisterte fast hörbar im Sep.
Charme und Esprit hatte dieser Dialog. Und bewegte sich immer auf dem schmalen Grad zwischen charmantem Flirt und Cybersex - dieser elektronischen Spielart der Triebe, die jedem eindringlich klar macht, wie alleine man vor dem Monitor sitzt.
Die beiden hatten sich gefunden. Das Chat-Separée diente ihnen als beinahe allabendlicher Treff. Mails wurden hin und her geschickt. Da keiner von beiden ein gescanntes Foto besaß, waren sie ihrer Phantasie überlassen. Sicher, sie hatten beide die Personenbeschreibung des anderen - irgendwie war das aber eher weniger als mehr.
Als dann ihre Fotos später per Post bei ihm eintrafen, schaute er sich die Bilder lange an. Sie sah gut aus. Irgendwie hatte er sie sich aber anders vorgestellt - ohne dass er in diesem Moment hätte sagen können, wie anders sein Phantasiebild gewesen war, das er jetzt zum ersten Mal bewußt bemerkte. Hatte er nicht über etliche Tage hinweg versucht, sich kein physisches Abbild dieser Frau zu machen, die ihn so mit ihren Zeilen berauschte? Seine Gehirnchemie hatte ihn wohl überlistet. Langsam, ganz langsam begann er, das Gesicht auf dem Foto mit dem überein zu bringen, was er im Sep und in den Mails so lieben gelernt hatte.
Abends im Chat wischte er ihre schüchterne Frage lässig vom Tisch. Nein, er sei kein bißchen enttäuscht gewesen von ihrem Foto - im Gegenteil. So ganz stimmte das nicht, wie er sich insgeheim eingestehen mußte. Er war schon ent---täuscht worden ... seiner Täuschung beraubt. Das konnte er ihr aber schwer erklären. Verzichtete also darauf. Und letztendlich sah sie ja wirklich gut aus. Was hatte er denn erwartet? Veronika Feldbusch, die er so attraktiv fand? Er fand sich selbst ein bißchen albern. Seine Cyber-Liebe hatte ein paar Pfund mehr, na und?! Sie war legerer gekleidet auf dem Foto, als er sich das ausgemalt hatte - was soll’s!
Ihr ging es wenig später ähnlich mit seinem Foto, das er bei einem Freund hatte scannen lassen. Aber da für sie seine physische Erscheinung eh nicht so ausschlaggebend war, brachte sie die Realität schneller mit ihrer eigenen Vorstellung überein.

Das Wochenende

Die Finger am Lenkrad waren merklich feucht. Er fuhr viel zu schnell - nur jetzt keine Radarkontrolle. Ärgerlich nahm er den Fuß vom Gas, mußte aber sofort über sich selbst grinsen. Das Lampenfieber hatte den Wagen beschleunigt. Er sollte sie endlich persönlich kennenlernen. Drei Wochen lang hatte er sich fast jeden Abend mit ihr unterhalten. “Ich kenne sie eigentlich schon gut”, sagte er sich. Wenn das Wörtchen “eigentlich” nicht wäre ...
Als sich die Haustür öffnete, war es anders als erwartet. Erst jetzt wurde ihm klar, daß er nach dem Foto eine zweite Erwartungshaltung aufgebaut hatte. Mit jovialer Begrüßung, die Herzlichkeit beinhalten sollte, versuchte er seine Nervosität zu überspielen, ihr Sicherheit zu geben. Das gelang halbwegs. Sie machte Kaffee. Er griff zur Zigarette. Nur jetzt die Hände beschäftigen!
Mehr und mehr wurde ihm klar, daß er eine Frau vor sich hatte, die er wirklich gut kannte. Sie klang live wie durch den Monitor - dieselbe Wortwahl, derselbe Satzbau. Ihre Stimme war am Telefon anders gewesen - weicher irgendwie. Aber da hatte sie vielleicht auch bewußt mehr mit den Stimmbändern geschmeichelt.
Das Wochenende war innig und wurde mit den Stunden immer schöner. Zwei Menschen, längst durch ihren Geist verbunden, lernten ihre Körper kennen. Sie verschmolzen mehr und mehr zur Ganzheitlichkeit - genossen diesen Prozeß unendlich. Oft, sehr oft stand die Frage im Raum: Hätten wir uns ohne das Internet auch kennengelernt? Wären wir aufeinander zugegangen, selbst wenn wir in derselben Stadt gewohnt und uns in irgendeiner Kneipe getroffen hätten?
Die Antwort blieb aus ... die beiden hatten genug mit anderen Themen zu tun. Wie geht das nun weiter? Diese Entscheidung wollte niemand von ihnen ansprechen an diesem so einzigartigen Wochenende. Aber beide wußten, daß sie sich um diese Frage nicht drücken konnten. Liebe via Internet - flüchtige Phase oder Beginn einer stabilen Beziehung? Sie wußten es nicht. War es überhaupt wichtig? Ist wirkliche Freundschaft nicht viel mehr als Liebe? Es gibt keine wahre Liebe ohne Angst - sie waren sich beide darüber klar. Und trafen sich am Montagabend, jeder wieder an seinem Monitor, um mit neuer Chat-Qualität und neuem Partnerbewußtsein zu neuen Ufern aufzubrechen.


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