Der Tag in "La Santa"


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Posted by Richard West on September 24, 1998 at 02:03:41:

In Reply to: Schwierige Frage... posted by biggy on September 22, 1998 at 23:43:46:

Ein paar Kilometer weiter, in einem der weltweit wichtigsten Sport-Komplexe "La Santa", ist diesmal nicht Inter Mailand zum Training gekommen. Auch keiner der Leichtathletik- oder Ironman-Top-Stars, die sich hier gewöhnlich zum Training während der Zeit treffen, in der in Nordeuropa das Wetter Höchstleistungen verbietet. Stattdessen fahren seltsam Gefährte mit irrwitziger Geschwindigkeit auf der roten Tartanbahn: spezielle Rollstuhlkonstruktionen fegen um die 400-Meter-Strecke, daß einem ganz schwindlig werden kann. Training für die Paralympics ist angesagt ... und irgendwie fühle ich mich deplaziert mit meinen Blicken. Es fällt mir schwer, mich zurechtzufinden.

Halt, Richard! Den Kopf einschalten! Das hier sind Menschen, die ernsthaften Leistungssport betreiben. Und keine Objekte deiner Neugier. ... Sind sie nicht? - Doch - sind sie! Auch gut, Richard, dann geh' jetzt unbefangener damit um und hör' auf, so absichtlich unabsichtlich hin- und wegzugucken.

Ein Verkehrsunfall hat ihm beide Unterschenkel abgerissen. 23 Jahre ist er alt. Und gibt gern Auskunft. Nicht weil ich Journalist bin, sondern weil er "jetzt weiß, wie wichtig Verständnis in dieser Welt ist ... und wie schlimm, wenn es fehlt".

Daheim in Kanada hat er mehr als einmal daran gedacht, sich das Leben zu nehmen - damals nach dem Unfall. "Damals", das ist genau zwei Jahre her. "Eine Ewigkeit", sagt er. Und weil er meine Blicke sieht, erklärt er es gleich selbst: "Versuch' gar nicht darüber nachzudenken, was Du an meiner Stelle getan hättest. Nichts von dem, was Du jetzt denkst, stimmt noch, wenn Dir plötzlich beide Beine fehlen."

Brian ist Leistungssportler. Und geht (fährt) in die Disco ... wie alle anderen. Dem jungen Kanadier fehlt nichts. Er hat etwas dazugewonnen. Sagt er. Und es ist unmöglich zu behaupten, er beruhige sich damit nur selbst. Brian wirkt zufrieden. Zufrieden und gefestigt. Von seinem körperlichen Handicap abgesehen hat er einen Körper, den ich mir wünschen würde.

Lange sitzen wir beim Kaffee.

Am Ende weiß ich, daß er mich nicht beneidet und nicht beneiden muß. Eher umgekehrt.

Und ich spüre, daß alles, was ich jetzt über den ersten Tag sagen würde , an dem ich im Rollstuhl sitzen könnte, pure Theorie ist. Brain hat recht.

Sonst hätte ich jetzt nämlich sagen müssen, daß ich sehr auf Biggy's Linie liege. Ich lasse es besser ...

http://www.paralympic.ca/


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