Neue Wege aus der Arbeitslosigkeit


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Posted by Richard West on October 06, 1998 at 02:32:50:

In Reply to: welcome back! :-) posted by biggy on October 05, 1998 at 23:41:14:

Nun, Biggy, Arbeitslosigkeit zu reduzieren, ist gr keine Hexerei ... je nachdem, wie man es erreichen will und mit welchem Ziel.
Zunächst wird die Regierung die 620 Mark-Jobs abschaffen (vielleicht bis auf Ausnahmen) und damit schon einmal 600.000 Arbeitsplätze schaffen. Das kann man nun richtig oder falsch finden. Danach wird es so etwas wie Zwangslehrstellen für Jugendliche geben (wer nicht ausbildet, zahlt!). Schon haben wir insgesamt knapp eine Million Arbeitslose weniger. Danach wird man feststellen *Kristallkugel dreh*, daß es über den Abbau der überdimensionalen Überstundenzahl noch einmal 100.000 Arbeitsplätze zu schaffen gilt. Da sammelt sich doch schon ganz schön was an.

Natürlich werden diejenigen entmutigten Hausfrauen und älteren Ex-Arbeitnehmer, die die Suche nach einer beschäftigung längst frustriert aufgegeben haben, nicht in dieser (oder irgendeiner) Statistik erscheinen. Aber sehr wohl weiterhin die, die nur deswegen noch Arbeitslosengeld kassiern und schwarz arbeiten, weil mein Lösungsansatz unpopulär ist: Stempelkarte und täglich erscheinen - montags um 9 - dienstags um 11 - mittwchs um 13 - donnerstags um 15 und freitags um 17 uhr ... aus wäre es mit der Schwarzarbeit. Wer keinen Stempel will, will auch kein Geld. ;-)

Aber im Ernst:
Arbeitslosigkeit hat ja eine im Prinzip durchaus erfreuliche Entwicklung zum Hintergrund. Wir schaffen es immer besser, Produktionsprozesse zu rationalisieren und menschliche Arbeit überflüssig zu machen. Daraus folgt ganz logisch: Wenn weiterhin jeder, der arbeiten will und kann, Beschäftigung finden soll, geht es keinesfalls ohne drastische Verkürzung der Arbeitszeiten. Zum Beispiel wurde Anfang des 19. Jahrhunderts 80 Stunden pro Woche gearbeitet. Heute sind wir bei weniger als der Hälfte. Bei der lebensarbeitszeit sieht es ähnlich aus. Allerdings war der Arbeitsrhythmus ein anderer.

Die Wirtschaft wird niemals mehr so etwas wie Vollbeschäftigung herstellen können. Von dieser Idee verabschieden sich nur diejenigen noch nicht, denen geistige Flexibilität abgeht oder die es aus politischen Motiven nicht dürfen. Daher kann die Lösung nur ein neues Rezept darstellen: Erwerbstätige bekommen, für ein ausreichendes Grundeinkommen, die Chance zu produktiver Tätigkeit in einem öffentlich organisierten sektor gemeinnütziger Arbeit. Wer mehr als die dort vorgesehenen 20 Wochenstunden arbeiten (und verdienen) will, dem steht weiterhin der Marktsektor offen. Ausserdem wird Eigenarbeit, ein bisher sträflich vernachlässigter Bereich volkswirtschaftlicher Bedeutung, so weit wie möglich gefördert. Dieses 3-Schichten-Modell (in Ansätzen den Vorschlägen des Club of Rome) entlehnt, schafft es ausserdem, dass durch die Verpflichtung zur Übernahme gemeinnütziger Tätigkeiten ein jährliches Sozialeinkommen überhaupt erst legitimiert wird.

Denn wer glaubt, die Wachstumsraten der Wirtschaft könnten auf Dauer die Rationalisierungsfortschritte übertreffen, ist schlicht ein Traumtänzer. Ja sicher, es gibt immer noch neue Wachstumsbereiche (Energietechnik, Umweltschutzberufe insbesondere). Doch werden wir über kurz oder lang dem Vermeidungsimperativ nicht entgehen können, der die Aufräum- und Recyclingarbeiten im Umweltsektor in den Hintergrund drängen muss. Wenn wir die Lebensdauer unserer gebrauchsgüter erhöhen (kommt zwangsläufig) und Umweltschäden durch unsere Lebens- und Produktionsweise möglichst gar nicht erst eintreten lassen (kommt auch zwangsläufig immer mehr), wird ein Großteil des defensiven Aufwands überflüssig = weniger Arbeitsplätze.

Bleiben also die Dienstleistungen.
Die werden aber in der Gesellschaft der Zukunft nicht hauptsächlich im Marktsektor erbracht werden. Und selbst wenn der marktsektor dort Arbeitsplätze schaffen wird, reicht das nie und nimmer, um diejenigen aufzunehmen, die durch Rationalisierung wegfallen.

Wie man es auch dreht und wendet: Es läuft zwangsläufig auf eine Kürzung der Erwerbsarbeitszeiten hinaus, keine Frage.
Und das wäre eine gute Möglichkeit, auch im Dienst am Gemeinwesen Erfüllung zu finden, die durch Erwerbsarbeit nicht mehr (in dem Maße) zu erreichen ist. Was uns wieder zu einer existentiellen Frage der zukünftigen Gesellschaft führt: Werden wir in der Lage sein, die radikal kürzere Erwerbsarbeitszeit durch die spielerische und kulturelle Seite unseres Bewußtseins zu ergänzen? Oder gibt es dann den "flexiblen Menschen" mit seinen ungelösten Identitätsproblemen? Die Zeit wird es uns zeigen, denke ich, und das ist auch schon wieder ein ganz anderes Thema ... viel schwieriger noch und vielschichtiger als die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.

Ich hoffe, ich konnte deutlich machen, dass mit den alten Methoden im Bereich der Arbeitslosigkeit nichts mehr zu bewegen ist. Und vielleicht ein paar neue Denkanstöße geben. Womit auch schon Deine Frage beanwortet ist, Biggy. Du sagtest: "...es wurde die partei gewählt, die das meiste engagement
gegen die Arbeitslosigkeit verspricht. Ob und wie sie das schaffen will - darauf bin ich sehr gespannt!" - Die Antwort ist einfach: Diese regierung wird es so wenig schaffen wie die vorige! Weil sie versucht, mit einem 50 Jahre alten Anzug eine Modenschau zu organisieren.

Wir werden also noch eine Weile unruhige Geduld aufbringen müssen, bis die Querdenker der intellektuellen Terroristengarde wirklich gehört werden, weil Arbeitslosenverbände und -demonstrationen genügend sozialen Druck erzeugen. Einmal mehr: Erst müssen Steine ins Schaufenster fliegen, bevor sich die quietschenden Räder des jahrzehntelangen Gehirnstillstandes zu bewegen beginnen - Gesetz des Lebens.

Richard West

*der stinkbeleidigt ist, wenn so ein aufwendiger Beitrag ungehört verhallt* ;-)


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