In Reply to: Zur Warnung oder das Gefühlchaos ! posted by Uwe on March 07, 1998 at 08:42:55:
Lieber Uwe !
Dein Posting habe ich schon gestern gelesen, und ich möchte Dir sagen, daß es mir wirklich
an's Herz gegangen ist zu sehen, wie sehr Du zwischen die Fronten geraten bist in dem Wunsch,
Dein emotionales Defizit im täglichen Leben mit einer ganz außergewöhnliche Frau aus dem Netz
auszugleichen. Ich glaube, daß eine Ehe, in der zwei wie Bruder und Schwester zusammenleben, eine
Symbiose zur Bewältigung der existentiellen Erfordernisse ist, aber sicher keine Liebesbeziehung
sein kann, die Deine weniger greifbaren Bedürfnisse ( Verstandensein, Geborgensein, Begehrtsein,
Geliebtsein, Einander nahe Sein, Verstehen, Geborgenheit geben, Begehren, Lieben ) auch erfaßt.
Gerade weil Du schreibst, daß Du eher schüchtern bist, finde ich es umso bewundernswerter, daß Du
Dich überwunden hast, uns von dem Chaos, das derzeit Dein Leben prägt, zu erzählen.
Du schreibst, es fielen die 3 bekannten Worte von ihr - ein Grund zum Jubeln, und doch haben Eure
Schwierigkeiten genau dort begonnen. Du hast es ihr angelastet, daß sie - trotz der 3 Worte - auch
weiterhin mit anderen chattet, daß sie sich mit anderen trifft und Dir manches verschweigt, daß
merkwürdige Zufälle Dich zweifeln ließen an ihrer Zuneigung zu Dir, an der Exclusivität ihrer Gefühle
für Dich. Deine ganz eigene Erwartungshaltung ihr gegenüber hat sich nach den 3 Worten offenbar wesentlich
verschärft. Nach Deiner Vorstellung chattet jemand, der die 3 Worte Dir gewidmet hat, nicht mehr mit
anderen, sorgt zuverlässig dafür, daß Du keinen wie immer gearteten Verdacht hegen kannst, erzählt Dir
vorsorglich alle Gedanken, Absichten, Erwägungen, versagt sich die Sympathie für andere, um sie einzig
Dir zuzuwenden und trifft sich vor allem nicht mit einem anderen Mann, geschweige denn, daß sie mit ihm
die Zuneigung auch körperlich auslebt.
Und alle Einschränkungen, die hier erwähnt sind und noch viele andere mehr, die sich im Leben so
zeigen, fordert der/die Liebende im Namen der Liebe.....
Ich glaube aber, daß diese traditionelle Denkensweise nicht mehr zeitgemäß ist, daß diese Form, in
die viele sich selbst und den anderen zu pressen versuchen, zu eng und zu klein ist, als daß auch nur
einer - geschweige denn zwei - darin Platz hätten, sich zu entwickeln und zu entfalten.
Ich selbst bin auch niemals frei von Erwartungshaltung, verschicke Mails und hoffe auf umgehende
Antworten, gehe in den Chat und erwarte meine Lieblings- Chatter dort zu treffen. Freilich bin ich
enttäuscht, wenn mich eine(r) davon vielleicht nicht einmal begrüßt, weil er/sie anderweitig engagiert
ist. Umso größer die Enttäuschung, wenn das gerade mit dem Menschen passiert, mit dem man auch Liebesworte
und Zärtlichkeiten ausgetauscht hat. " Es kann doch gar nicht sein, daß er auf mich nicht genauso wartet,
wie ich auf ihn " ist der allererste naheliegende Gedanke in dieser Situation. Und um die Selbstvergiftung
auf die Spitze zu treiben, ist der nächste Gedanke : " Was hat sie, womit sie ihn fasziniert und fesselt, was
ich nicht habe.... ".
Ich habe genau diese unglückliche Einstellung eine zeitlang selbst verfolgt und in dieser Zeit jede Menge
Fleißaufgaben in Elend und Kummer und Herzleid gemacht. Hätte ich damals loslassen können, wäre mir eine Menge
an Schmerzen und Tränen erspart geblieben. Dem Beitrag von Richard West ist da nichts hinzuzufügen - alles was
mir wichtig erscheint zum Loslassen, hat er schon gesagt.
Vielleicht kannst Du Dich auch mit meiner ganz persönlichen Lösung für das Beziehungs- Dilemma anfreunden, das
immer entsteht, wenn man mit herkömmlichen Ansichten und scheinbar berechtigten Ansprüche und Erwartungen in
eine herzensinnige insbesondere auch sexuelle Liebesbeziehung hineinwächst.
Fairness ist hier mein oberstes Gebot - was für mir selbst gut und förderlich ist, ist erstmal das allermindeste,
das ich auch dem anderen frohen Herzens vergönne. Dazu zählt nicht nur die zwanglos amüsante Unterhaltung im
Chat, der Austausch von Gedanken und Geheimnissen, die man mit anderen - freilich ausgewählten - Menschen
teilt. Es zählt auch die Bewegungsfreiheit dazu, die Redefreiheit, die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit
( die auch die Freiheit beinhaltet, spontan zu entscheiden, ob man einem anderen nicht nur verbal, sondern
vielleicht auch körperlich begegnet ).
Weil aber mein eigener Verhaltens- Rahmen für einen anderen Menschen niemals exakt zutreffend sein kann,
lasse ich in jedem wichtigen Lebensbereich dem anderen noch zusätzlichen Spielraum und nehme meinerseits
einen solchen auch in Anspruch. Hier entsteht eine Grauzone, in der ich jeweils spontan entscheide, ob ich
diesen oder jenen Wesenszug des anderen in seiner jeweiligen Ausprägung noch lustig, amüsant, bereichernd
oder schon für mich bedenklich oder gar abstoßend finde. Hier sehe ich das Spannungsfeld einer Beziehung,
die Zone für Kompromisse, für Feinabstimmung des Verhaltens, für ausführliche Gespräche, in denen man
einander den jeweiligen Standpunkt nahebringen und auch neues Verständnis, das ich bis dahin nicht hatte,
entwickeln kann.
Freilich beinhaltet dieses Konzept auch die Möglichkeit wechselnder Partner, ein Gedanke, den man auf sich
selbst bezogen gerade noch akzeptabel findet, der auf den anderen ( geliebten ) Menschen bezogen aber große
Probleme bereiten kann. Nach meiner Überzeugung entsteht Eifersucht meist durch ein momentan zu geringes
Selbstwertgefühl - sie hat deutliche Züge von Neid auf die Ausstrahlung und Attraktivität anderer. Und doch
stärke ich mich immer mit dem Gedanken und der Überzeugung, daß meine ganz individuelle Persönlichkeit so
einzigartig ist, daß jede andere Frau mit meinem Partner etwas anderes teilen kann, aber niemals genau das,
was mich mit ihm verbindet. Solange ich überzeugt bin, daß auch er den Schutz der Intimität ( nicht unbedingt
Exclusivität ) über unsere Verbindung aufrecht hält, Stillschweigen bewahrt über das, was ich ihm - und nur ihm
anvertraue - und mir das Gefühl gibt, meine Einzigartigkeit zu erfassen und zu genießen, fühle ich mich geliebt.
Die Treue ergibt sich so aus dem Vertrauen und nicht aus der sexuellen Enthaltsamkeit.
Mein eigener Schutzmechanismus gegen Übergriffe, Zumutung, Geringschätzung und alles, worin ich keinen Sinn sehe,
mich damit zu befassen, ist einfach konsequentes Abgrenzungsverhalten. Mitunter werde ich im Chat beschimpft,
bedroht und belästigt. Auch im realen Leben gerate ich immer wieder in Situationen, in denen von mir ( meist mittels
exakter Erwartungshaltung ) eine zuvor berechnete Reaktion eingefordert wird. Ob ich einer solchen Anforderung aber
entsprechen mag, entscheide ich immer wieder neu.
Uwe, ich wünsch' Dir sosehr, daß Du mit diesen Überlegungen etwas anfangen kannst - obwohl Charming es schon gesagt
hat : die besten Gedanken und Absichten, die Dich durchs Leben leiten, erfordern zuerst die gekonnte reale Umsetzung,
und das ist auch immer das wirklich Schwierige, aber auch Reizvolle daran.
Kopf hoch ! Ich halt' Dir die Daumen, daß Du beginnst, die Entscheidungen zu treffen, die Dich wirklich weiterbringen.
Scarlett