Enttäuschende Liebe


[ Zum aktuellen Board ] [ Archiv I ]
Posted by Smilie on March 19, 1998 at 12:28:58:

Plötzlich sprang mich der Nickname Sting99 stürmisch an: "Wer bist Du? Bis Du m oder w? Wie siehst Du aus? Schnell!". Ich wunderte mich sehr über dies, war aber gleichzeitig belustigt und antwortete knapp, was wohl zur Zufriedenheit ausfiel, denn dann kam: "Sehr gut. Ich bin w." Nach ein paar weiteren kurzen Fragen erklärte sie, daß sie jetzt keine Zeit mehr hätte, aber mich unbedingt am nächsten Tag treffen wollte. Ich war zwar halbwegs davon überzeugt, daß Sting99 ein Fake sein mußte, sagte jedoch trotzdem abenteuerlustig zu. Am nächsten Tag dann, kam sie wirklich, und meine Ahnungen wurden mehr und mehr zerstreut. Wir tauschten gegenseitig Informationen über die Person aus und kamen uns näher. Claudia E. chattete von einem Internetcafé aus und hatte ständig Verbindungsprobleme. Auch kannte sie sich mit Chatcity nicht aus.
Sehr schnell war sie von mir angetan und mir gefiel das. Ich konnte zwar ihre Zuneigungsgeschwindigkeit nicht mithalten, aber sie war mir ziemlich sympathisch. Sie erzählte mir unter anderem, daß sie mit einem platonischen Freund, der gleichzeitig ihr Firmenpartner in einer kleinen Werbeagentur wäre, in einer Wohngemeinschaft lebte.
Wir trafen uns drei vier Tage lang täglich und schrieben uns unaufhörlich Chatmessages, manchmal die einzige, sehnsüchtige Verbindung, da sie ständig abstürzte. Sie bat mich dann, sich mit ihr im Lufthanasachat zu treffen, weil dort ihre Verbindung stabiler war. Sie erzählte mir, daß sie jetzt wegen mir unbedingt einen eigenen Anschluß zu Hause haben wollte und daß ihr Freund Dirk ihn hoffentlich so schnell wie möglich einrichten könnte.
Nachdem sie erfahren hatte, daß ich ein Faxgerät besitze, wollte sie, daß wir uns per Fax schreiben (sie besaß schon ein Faxmodem). Das tat sie auch. Allerdings funktionierte das umgekehrt nicht. Ich konnte ihr kein Fax schicken.
Am nächsten Tag leutete bei mir das Telefon. Es war Dirk. Wir sprachen über die technischen Probleme und natürlich auch über Claudia. Er erzählte mir in allen Details, daß sie in den letzten Tagen wegen mir sehr aufgeregt gewesen war, und daß sie ihm im Moment ganz schön auf die Nerven ging mit dem Internetanschluß. Sie hätte allerdings ein Problem damit, mit mir zu telefonieren.
Es gab dann noch weitere fünf Telefonate mit dem sympathischen Dirk, die sich wieder um ähnliche Themen drehten. Mittlerweile hatte ich den beiden auch eine AOL-CD geschickt, damit das mit den Anschlußproblemen endlich ein Ende hätte, denn mich machten diese Schwierigkeiten mindestens genauso fertig, wie Claudia.
Mittlerweile hatte ich von ihr erfahren, daß sie eine ziemlich attraktive, erfolgreiche Geschäftsfrau im grafischen Gewerbe war und ständig wegen Kundenterminen in der Weltgeschichte herumreiste. Es war zwar etwas verwunderlich, daß so eine Frau so schlecht in Rechtschreibung war, aber für den Geschäftssinn ist das ja nicht so wichtig. Dirk sagte mir, daß er mich um sie beneidete.
Sie sprach davon, daß sie in wenigen Tagen in meine Stadt kommen würde, und bei dieser Gelegenheit könnte man sich ja eventuell treffen. Ich trug ihr daraufhin zwar mein kleines Chatmärchen von Illusion und Realität vor, damit sie dann auch nicht eventuell von mir enttäuscht wäre, aber begrüßte ihre Idee auf jeden Fall. Doch dann überlegte sie es sich anders (wohl wegen meinem Märchen umgestimmt) und meinte, daß sie sich doch vorerst noch die Illusion bewahren wollte.
Nachdem nun endlich ein Heimanschluß hergestellt war, konnten wir uns auch e-Mails schicken und chatteten weiterhin jeden Tag miteinander. Immer wieder beteuerte sie mir, wie sehr sich mich mögen würde, daß ich zu ihrem besten Freund geworden und sie sich im Moment über ihre Gefühle nicht klar wäre. Sie meinte, ich hätte ihr den Kopf verdreht, doch empfand ich das eher umgekehrt, denn mir schwirrte der Kopf von ihrer stürmischen Zuneigung mir gegenüber. Ich wußte nicht recht, mit was ich diese eigentlich verdient hatte, denn meine Überschwenglichkeit hatte sich bisher einigermaßen in Grenzen gehalten. Auch war ich durch ihren launischen Charakter - mal heißblütig und liebevoll, mal eher wortkarg und gestreßt - ein wenig ambivalent, aber das war wohl auf ihre derzeitige, angespannte Berufssituation zurückzuführen. Auch ein bißchen lose und sprunghaft kam sie mir manchmal vor, wenn sie mich zum Beispiel mitten in einem sehr schönen, wichtigen Gespräch plötzlich für einen anderen zur Seite schob und deswegen auch gar kein großes Aufhebens machte, oder plötzlich anfing, auf die gleiche Weise, wie mit mir am Anfang, im Chat mit meinem engsten Freund zu flirten. Aber sie entschuldigte sich immer wieder freundlichst bei mir für alles, was sie so mit mir trieb, und eigentlich wäre ich der einzige Wahre, und nur ich würde sie interessieren, niemand sonst. Übrigens war sie der Typ Frau, die sich wegen ihrer Attraktivität natürlich nicht um Männerbekanntschaften zu reißen brauchte, aber immer nur an Charakterschweine geriet, und diejenigen, die nett wären, wären stets zu schüchtern, sie anzusprechen.
So steigerte sich das alles noch einige Tage weiter hinauf. Ich schrieb ihr lange e-Mails, teilweise sogar kleine Geschichten, bis sie dann eines Tages einmal zum Abschied ILD tippte und einen Tag später dann das ganze ausschrieb: Ich liebe Dich! Auch wollte sie unbedingt von mir wissen, was ich für sie empfinden würde. Ich wußte meine Gefühle nicht so recht zu definieren, aber konnte auch nicht behaupten, daß ich sie nicht lieben würde. Auf jeden Fall empfand ich eine sehr starke Zuneigung für sie.
Dann mußte sie geschäftlich nach Paris fliegen. Sie chattete dort aus in einem Internetcafé mit mir. Sie beichtete mir, daß ihr jetzt etwas passiert wäre. Sie hätte aus eine Laune heraus zum ersten Mal nach 20 Jahren platonischer Freundschaft mit Dirk geschlafen und würde dies nun bereuen. Sie hätte auch ständig an mich gedacht und nicht an ihn. Da klingelte plötzlich ihr Handy und ich wartete eine Minute. Jubelnd und außer Sich vor Freude schrieb sie, daß sie gerade erfahren hätte, daß ihrer Agentur nun ein Großauftrag von Microsoft sicher wäre, um den sie schon lange gekämpft hatte. "Kaum zu glauben!", meinte ich und gratulierte herzlich. Sie mußte dann nach Amerika fliegen und würde dort Bill Gates treffen.
Während der ganzen Zeit mit Claudia erzählte ich natürlich alles meinen engsten Freunden und nach diesen jüngsten Berichten meinte einer: "Das kann doch alles nicht sein. Das ist ein Fake!". Ich lachte ihn dafür aus und legte ihm lang und breit auseinander, daß das garantiert nicht so wäre, nach all dem, was war. Zu Hause dann allerdings dachte ich noch einmal über diese ungeheuerlich lächerlich Behauptung nach und verinnerlichte mir noch einmal die letzten zweieinhalb Wochen, nun unter dem Aspekt: "Nur mal angenommen, sie ist ein Fake!". Und plötzlich paßte alles zusammen! Diese vielen kleinen, unscheinbaren Mosaiksteinchen von Merkwürdigkeiten legten sich nun zu einem Bild zusammen. Mein Freund hatte absolut recht. Es könnte wirklich alles ein Fake sein und ich war nur wegen der rosaroten Brille zu blind, das selbst zu erkennen. Immer noch ungläubig faßte ich den Plan, dies selbst herauszufinden, in dem ich ihm eine Falle stellte. Ich ging mit dem Nickname REM (diese Gruppe mochte sie/er sehr gerne) in den Chat als Sting99 anwesend war und gab mich als Frau aus. Der Köder verfehlte nicht seine Wirkung und schon war ich mit ihm/ihr im Sep. Und siehe da, Sting99 war plötzlich keine Claudia E. mehr, sondern Dirk! Ich hielt weiterhin meine Tarnung aufrecht und erfuhr so einige Gemeinsamkeiten zwischen ihm und "seiner Claudia E.". Alles war also nicht gelogen. Er beschrieb sich so, wie ich ihn kannte und war wiederum ganz nett. Selbstverständlich gab es hier auch keine haarsträubenden Rechtschreibfehler mehr.
Ich verabredete mich für den nächsten Tag wieder mit ihm. Eine Stunde später ging ich erneut mit meinem normalen Nick in den Chat und sah ihn wieder. Dieses Mal war Sting99 natürlich wieder Claudia. Von da an, beschloß ich, den Spieß umdrehen! Aber zuerst wollte ich noch den absoluten Beweis, denn es hätte ja immer noch sein können, daß Dirk ihren Nickname benutzt hat. Und so ging ich also am nächsten Tag zur verabredeten Uhrzeit in den Chat und er war da, allerdings ich nicht mit REM, sondern mit meinem eigentlichen Nick. So lud mich Sting99 natürlich gleich ins Sep ein und spielte mir Claudia vor. Eine Minute später öffnete ich einen zweiten Browser und ging zusätzlich auch noch mit REM in den Chat und flüsterte Sting99 an und siehe da, es dauerte keine weitere Minute, und Claudia "warf mich weg" mit der Entschuldigung, daß da eine uralte Freundin aus Amerika aufgetaucht wäre, mit der sie jetzt unbedingt chatten müßte. Und schon hatte REM Sting99 im Séparée.
Im Gegensatz zu Dirk, oder wie auch immer sein richtiger Name lautete, hatte ich keine Lust dieses Spiel genauso lange mit ihm zu treiben, wie er mit mir. Und so beschloß ich, ganz entgegen meinem sonstigen Charakter, sehr schnell Rache an ihm zu nehmen und ihm einen Denkzettel zu verpassen. Ich mußte auch deswegen schnell handeln, weil er unbedingt mit mir telefonieren wollte. Natürlich wollte er das, wußte er doch sehr gut Bescheid über Fakes und deren Tricks (Ich hatte schon eine Bekannte von mir darum gebeten, notfalls an meiner Stelle mit ihm zu telefonieren, falls es darauf angekommen wäre, aber glücklicherweise war das nicht nötig.). Ich spielte mein Fake sehr gut und schaffte es, daß er mir sehr schnell sehr zugetan war und Vertrauen gefaßt hatte, und wollte mich mit ihm treffen. Der Treffpunkt sollte eine Stadt sein, die in der Mitte zwischen unseren Standorten lag, was für ihn immer noch ca. 200 km bedeutet hätte. Er sagte zu. Selbstverständlich hätte er dann dort stundenlang gewartet und es wäre keine REM weit und breit in Sicht gewesen und er hätte den ganzen Weg mit dem Zug umsonst gemacht.
Allerdings machte ich dann leider leider einen schwerwiegenden Fehler (ich ohrfeige mich heute noch dafür). REM schrieb noch kurz vor dem Treffen eine Chatmessage, aber aus Versehen und in geistiger Umnachtung schickte ich sie unter meinem anderen Nick los! Und da war natürlich alles aufgeflogen. Aber ich wollte ihm die Genugtuung über dieses Mißgeschick nicht gönnen und rief ihn an (ja, er hatte mir damals sogar freiwillig seine Telefonnummer und Adresse gegeben). Ganz ruhig und cool begann ich das Gespräch mit einem "Na, Du mieses Schwein?" und legte ihm die Umstände dar, erklärte ihm, daß ich REM war und erzählte von meinen Fehler. Und dann geschah etwas Unglaubliches: Er gab nicht etwa jetzt auf und zu, daß er mich verarscht hatte, sondern legte mir in allen Einzelheiten auseinander, daß das alles wirklich kein Fake gewesen war, und daß es Claudia E. wirklich geben würde. Er erklärte mir, daß an diesem einen ersten REM-Abend sowohl Claudia E. als auch Dirk im Chat waren und beide als Sting99 mit mir gechattet hätten. Er schwor mir die Wahrheit zu sagen und entschuldigte sich dafür, daß er kurz ihren Nickname benutzt hätte und versprach, daß sie mich jetzt endlich mal wirklich anrufen würde, nach diesen schrecklichen Verwirrungen, damit ich eine Sicherheit hätte. Und glaubt es mir oder nicht bzw. haltet mich spätestens jetzt für völlig bescheuert, aber dieser perfekte Lügner und Betrüger konnte so glaubhaft und plausibel wirken, daß ich mich schon fast wieder davon überzeugen und einwickeln ließ. Er redete so dermaßen überzeugend auf mich ein, daß ich schon fast wieder meinen absoluten Beweis vom darauffolgenden Tag vergessen hatte und ihm glauben wollte. Aber kurz vor Ende des halbstündigen Telefonats kam es mir doch wieder in den Sinn, und ich knallte es ihm vor den Kopf. Er versuchte mir dann noch - nun nicht mehr ganz so redegewandt - weiszumachen, daß an jenem Abend wiederum beide gleichzeitig mit je einem Nickname Sting99 im Chat gewesen wären, was natürlich technisch unmöglich ist. Ich lachte ihn aus und er wies immer wieder darauf hin, daß Claudia mich anrufen würde. Mir war schon alles egal und ich verabschiedete mich von ihm und wollte darauf mal gespannt sein.
Aber dann dachte ich wiederholt über alles genau nach und kam jetzt endlich zu der 100%igen Überzeugung, daß das natürlich alles gelogen war. Spätestens jetzt begann ich zu überlegen, ob dieser Mensch nicht ernsthaft psychisch krank sei. Ich schrieb ihm noch ein Mail, in dem ich ihm die Chance gab, endlich alles zuzugeben und sich zu entschuldigen, ja, ich machte es ihm sogar leicht und verlangte von ihm nur ein "Ja" (stellvertretend für: "Ja, ich habe Dich gefaket"). Ich wollte gar keine weiteren ewigen Erklärungen mehr hören, ich wollte nur noch dieses eine "Ja". Ich schrieb ihm ebenfalls, daß ich auch keine weiteren Rachefeldzüge mehr gegen ihn starten würde, wenn er es zugäbe. Aber es kam keine Antwort. Nicht einmal diese letzte minimale Ehrenhaftigkeit besaß er.
Ich kann in dieser Situation schon fast von Glück sagen, daß ich mich nicht leicht verliebe, denn wäre ich ein stark emotionaler Gefühlsmensch und hätte mich wirklich verliebt, dann hätte ich vielleicht einen bleibenden Schaden zumindest für das Chatleben davongetragen. Wenigstens bin ich durch diese Geschichte heute ein wenig vorsichtiger mit möglichen Fakes geworden, als ich es früher war.

Das war's, ich hoffe, ich habe Euch nicht zu sehr gelangweilt, aber vielleicht könnt Ihr auch etwas dabei lernen. :-)

Smilie


Die hier erwähnten Charaktere und Namen sind nicht frei erfunden.
Ähnlichkeiten zu lebenden Personen sind voll beabsichtigt und nicht zufällig häh häh.
Es wurden hierbei keine Tiere verletzt oder mißhandelt, höchstens Herzen.


Follow Ups:


[ Follow Ups ] [ Archiv I ]