Re: Zur Warnung oder das Gefühlchaos !


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Posted by Richard West on March 07, 1998 at 13:51:29:

In Reply to: Zur Warnung oder das Gefühlchaos ! posted by Uwe on March 07, 1998 at 08:42:55:

Lieber Uwe,
Deinen Beitrag kann ich gut nachvollziehen. Kein Problem sich vorzustellen, wie Du unter dieser Situation leidest.
Laß’ mich versuchen, Deinen Beitrag auf eine Ebene zu bringen, die uns alle angeht. Denn es gibt hier ein paar Punkte, die uns alle treffen und mit denen umzugehen soooo schwierig ist.
Du hast eine Beziehung angefangen, die geradezu nach “Loslassen” schreit. Dieser Begriff wird heute nicht selten zitiert und ist doch unglaublich schwierig mit Leben zu füllen.
Wir alle haben - und nicht einmal nur dann, wenn wir wirklich lieben - den unbedingten Wunsch, den anderen exklusiv zu haben, ihn zu “besitzen”, ein bißchen überspitzt ausgedrückt. Das hat nicht nur damit zu tun, dass niemand gern eine Person, die er liebt, teilen mag. Grund ist auch und besonders, dass wir uns alle nach geistiger Stabilität sehen, in der wir uns geborgen fühlen können, die uns trägt. Ganz im Gegensatz dazu strebt unser Trieb ständig nach Neuem: ein neues Abenteuer, neuer “Kick”, eine neue elektrisierende Affaire. Du hast es gerade selbst erfahren, wenn auch nach 11jähriger Treue zu Deiner Frau.
Der brutale Abgrund zwischen dem Geist, der Stabilität will, und dem fleischlichen Verlangen nach Neuem macht unsere ganze Zerrissenheit aus - und Beziehungen so schwierig.
Dabei sind es immer wieder dieselben drei Phasen, die wir durchmachen: Zuerst die “rosarote Verliebtheitsbrille” beim Kennenlernen, Elektrizität und Spannung, wie auf Wolken gehen. Danach das “Sicherstellen” des Partners in einer geregelten Beziehung - Stabilität für den Geist, die Seele. Und dann möglicherweise wieder der Wunsch nach neuer Elektrizität, erneutem Verliebtsein, neue Lust auf Sex mit einem noch zu erforschenden Körper.
Es gibt keine Patentlösung für diesen Teufelskreis. Aber Ansätze gibt es vielleicht: “Loslassen, um zu behalten”, ist einer davon. Nur wenn beide Partner in der Lage sind, innerhalb einer Beziehung autonome Persönlichkeiten zu bleiben, kann es das Eins-werden geben, das wir uns alle so wünschen. Dazu gehört eine Unmenge an Vertrauen: zunächst in sich selbst, in den anderen und in die Kraft der Verbindung zwischen beiden.
Ewiges Mißtrauen gegenüber dem Partner zerstört eine Liebe ebenso schnell wie der viel zu oft zu erkennende Versuch, den anderen ein bißchen mißtrauisch auf sich selbst zu machen, um wieder wie früher umworben zu werden. Beides ist schon mittelfristig tödlich für die Liebe.
Du bist ausgebrochen aus einer Beziehung, in der Du 11 Jahre lang die Treue geübt hast, die Dir, wie Du sagst, wichtig ist. Endlich wieder neue Elektrizität, neues Verliebtsein - das Gefühl, wirklich begehrt zu werden, aufregender Sex mit einer neuen Attraktion. Oh ja, ich verstehe Dich sehr gut!
Aber nun verlangst Du zuviel von DIR! Dein Wunsch nach geistiger Stabilität im Verhältnis zu der “Neuheit” ist begreiflich - Dein Anspruch ihr gegenüber nicht. Wie kannst Du eine Frau exklusiv haben wollen, die Dich nicht exklusiv hat oder haben möchte? Wenn sie die Qualitäten hat, die Du suchst, wenn sie Dir wirklich wichtig ist, ist “loslassen” die einzige Chance. Dein Gefühlchaos resultiert doch aus Deinem Ausschließlichkeitsanspruch an sie, den Du andersherum gar nicht zu gewähren gedenkst. Oder wirfst Du Deine Ehe morgen hin, wenn sie es von dir verlangt?
Wenn wir einen Partner gelten lassen, als selbstständige Person und respektierten Partner im eigenlichen Wortsinn, ohne Besitzansprüche anzumelden oder gar durchsetzen zu wollen, haben wir eine reelle Chance auf eine bereichernde, beruhigende Beziehung. Alles andere verursacht Leid, seelischen Streß und Kopfzerbrechen auf beiden Seiten. Und das gilt wahrlich nicht nur für Deine Geschichte, sondern gilt auch, und um so mehr für sog. feste Verbindungen.
Um ein sogar albernes Beispiel anzuführen: Ist Dir schon einmal aufgefallen, dass zwei chatter, die sich über Zeilen mögen und anziehend finden, ohne sich je gesehen zu haben, oft gegenseitig das Recht absprechen, mit anderen chatter mehr als nur drei Worte zu wechseln? Hast Du vielleicht selbst schon einmal das seltsame Gefühl in der Bauchgegend gehabt, wenn Du einen chat betrittst und die Frau Deines cyber-Herzens mit irgendjemandem im Sep chattet?
Eifersucht ist eine vollkommen normale Sache, die sogar im Spiel sein muss, wenn wirklich Gefühle investiert werden. Doch nur die Fähigkeit loslassen zu können, den anderen nicht ständig in eine Ecke zu drängen, aus der er schwer wieder herauskommt, schafft das Vetrauen, das wir alle so nötig brauchen, um uns gehalten zu fühlen, um im anderen versinken zu können.
Du hast nicht um einen Tip gebeten, und ich habe keine moralische Kompetenz, um Dir einen Ratschlag geben zu können. Aber laß mich Dir sagen, was ich tun würde. Entweder ist Dir “die Neue” (neben Deiner Frau) wirklich wichtig, selbst wenn Du sie nicht “besitzen” kannst oder eben nicht. Im ersten Fall - und den nehme ich einfach an, weil ich Deinen Beitrag sehr offen und ehrlich finde - hast Du eine EINZIGE Chance: Sie muss sein dürfen wie sie ist und es nicht ständig nötig haben, für ihre Handlungen wahre oder erfundene Erklärungen zu suchen - oder Du verlierst sie ganz sicher sehr bald.
Und sei konsequent: verlang’ keine Exklusivität, wo Du nicht willens bist, Exklusivität zu gewähren.
Lieber Uwe, hoffentlich hast Du meinen Text nicht als Predigt aufgefaßt. Das soll er am wenigsten sein. Wenn ich Dir einen neuen Denkanstoß geben konnte und/oder dazu beitragen kann, daß andere Surfer auf dieser Seite zu diesem Themenkreis Stellung beziehen, wäre das mehr als genug Lohn für mich.
Ich hoffe sehr, dass sich Deine Situation bald so klärt, dass Du Dich besser fühlen kannst - ohne Dein bewußtes Zutun wird das aber kaum möglich sein.


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