Beim Großen Manitu


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Posted by RoteHexe on March 23, 1998 at 12:39:44:

Er war neu im Chat. Kam immer zur selben Uhrzeit rein. Blieb eine Stunde und ging wieder.

Sie war rund um die Uhr immer wieder anzutreffen im Chat. Er fiel ihr auf. Fiel ihr auf durch seine Unbeholfenheit und seine langen Antwortzeiten. Er chattete nur mit ihr.

Sie freundeten sich an, er erzählte aus seinem Leben. Stockend, ungeübt, unreflektiert, aber grundehrlich.

Sie verordnete ihm ICQ, einen Tag später hatte ers installiert. Dann lud sie ihn ein in den ICQ-Chat. Dort starrte sie wie gebannt fasziniert auf jeden einzelnen seiner Buchstaben. Er kroch förmlich dahin auf dem Bildschirm... Sie hatte solches noch nie erlebt.

Sie wollte nur Freundschaft, er aber hatte sich verliebt. Hals über Kopf, unsinnig und unpassenderweise. Denn er war verheiratet. Hatte zwei Kinder und eine Frau zu Hause. Eine Frau, die ihrerseits wieder mit einem Chatter verbandelt war. Darum seine limitierte Anwesenheit im Chat. Denn er teilte sich mit seiner Frau den Compi.

Seine Frau hatte einen Mann in der Stadt gefunden, in welcher sie wohnte. Und sie traf sich auch regelmäßig mit dem.

Das alles erzählte er ihr. "Sie haben sich auch schon geküßt". Und er litt. Litt bei dem Gedanken, was sich sonst noch alles abspielte, während er auf die gemeinsamen Kinder zu Hause aufpaßte.

Sie tröstete ihn, herzlich und mitfühlend. Das verbindet. "Beim Großen Manitu", so hatte er ihr gesagt, würde er versuchen, eine Lösung seiner Situation zu erwirken.

Er hatte sich in sie verliebt. Konnte an nichts anderes mehr denken. Sie versuchte, ihn zu beruhigen und ihm das Unsinnige der Situation vor Augen zu führen. Er kannte sie ja nicht persönlich.

Manchmal telefonierten sie mitsammen, und sie schrieben einander auch Briefe. Lange, innige, menschliche und mitfühlende Briefe. Sie versuchte, ihn zu stabilisieren in seiner belasteten Situation.

Bis seine Frau dahinterkam, daß er einen Menschen gefunden hatte, der ihn stärkte und ihm Mut machte. Daß er nicht mehr allein war in seiner Verzweiflung. Das alles natürlich nur virtuell.

Seine Frau verlangte den sofortigen Abbruch der Kontakte. Schweren Herzens gab er nach. Um seine Ehe zu retten und zu erwirken, daß seine Frau von dem Freund aus dem Chat ablasse...

Der gemeinsamen Kinder wegen, der wirtschaftlichen Verflechtungen einer Ehe wegen. Der gemeinsamen Vergangenheit wegen.

Sie kränkte sich sehr. "Beim Großen Manitu", hatte er gesagt, werde er irgendwann wieder einmal in ihr Leben treten. Sie solle einstweilen für ihn seinen nick vor Mißbrauch schützen.

Sie wartet nicht. Denn sie glaubt nicht an den Großen Manitu...

RoteHexe


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