Grösser und kleiner - Erneuerung tut not


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Posted by Richard West on April 27, 1998 at 19:55:37:

Um den Begriff "Zukunft" geht es in unserem neuen Thema - und das verleitet enorm, sich ausschliesslich mit der Vergangenheit und maximal mit der Gegenwart zu beschäftigen. Das kann aber nicht der letzte Sinn der Sache sein. Vergangenheit und Gegenwart sind sicher die Grundlage zur Analyse - Mittel, um eine Synthese zu finden, die den Wunsch nach zukünftigen Strukturen beschreiben hilft. Nicht weniger, aber auch keinesfalls mehr.
Wir alle haben die Tendenz, geradezu sehnsüchtig am Alten festzuhalten, weil das Bekannte (scheinbar) Sicherheit verleiht. Und dennoch fühlen wir uns dabei unwohl in unserer Haut, weil wir merken, dass neue Probleme mit alten Rezepten nicht zu bewältigen sind. Mut ist also gefragt - Mut zur Vision. Wer immer nur am "Machbaren" klebt, ist auch nicht besser als so viele, legislaturperiodenbegrenzte (sorry für das Unwort) Politiker, die ständig dem Trend hinterherlaufen und immer grösser werdende Dammbrüche mit Fahrradflicken zu reparieren versuchen. Die Poltikmüdigkeit der Bürger zeigt allerorten, dass die ausufernden Probleme der Weltgesellschaft innerhalb des so nervösen wie nervenden Parteiengezänks um den alleinigen Besitz der Weisheit keine Chance auf zufriedenstellende Lösungen haben. Erneuerung ist also angesagt. Grosse, weltumspannende Thema verlangen grossflächige Lösungsansätze und -möglichkeiten. Internationalisierung von Themen wie Umweltschutz, Kommunikation und Finanzströmen scheint geradezu unausweichlich.
Wo etwas größer wird, das zeigt der gesamtheiliche Ansatz deutlich, wird auch immer etwas kleiner. Das zusammenwachsende Europa verursacht Unsicherheit und Angst in vielen Bevölkerungsschichten. Viele fragen sich, ob sie nicht einer kaum definierten "Fremdbestimmung" entgegengehen. Als Antwort darauf werden nationalistische Strömungen immer deutlicher. Die einzige Möglichkeit zur Integration besteht diesmal in der Teilung: grosse Institutionen (bis hin zur Weltregierung) für planetenumspannende Problemstellungen - auf der anderen Seite weitmöglichst dezentralisierte kleine Entscheidungseinheiten für die regionalen Probleme, die in größeren Foren nicht entschieden werden können.
Sicher scheint, dass das System der Parteiendemokratie in seiner jetzigen Form ausgedient hat. Von der sozialen Marktwirtschaft, die wir gerade um das Prädikat "sozial" erleichtern (müssen), ist nicht einmal der Markt übrig geblieben. Nach dem Kommunismus also der zweite Verlierer?
Wir halten uns am Vordergründigen fest und feiern es als grosse Errungenschaft. Der neue Name auf unseren Münzen und Geldscheinen, der bald angesagt ist, wird zu oft als wichtige Neuerung gewertet, obwohl er die Zementierung der Misere nur konsequent fortschreibt. Euro statt konzertierter Familienpolitik, Euro statt internationaler Umweltschutzbestrebungen, Euro statt Abrüstung - um nur wenige Beispiel zu nennen. Statt an der Substanz zu arbeiten, schminken wir die Maske um. Statt den strukturschwachen Völkern auf die Beine zu helfen, damit ihre Bürger zu Hause einen angemessenen Lebensraum finden, versuchen wir uns mit allen Mitteln gegen sie abzuschotten, damit ja niemand von unserem immer noch reich gedeckten Tellerchen ißt.
Mehr soziale Gerechtigkeit ist nur zu erreichen, wenn endlich nicht mehr darüber diskutiert werden muss, dass ein Mensch auf diesem Planeten dasselbe Recht hat wie jeder andere Mensch - so simpel sich diese These anhört, so schwierig ist es offensichtlich, sie in die tragenden Entscheidungen einfliessen zu lassen. Aufweichung nationalstaatlicher Grenzen ist so wichtig wie unausweichlich. Grosse Konzerne - diejenigen, die heute wirklich regieren - haben as längst vollzogen: sie produzieren, wo Arbeit billig ist - verkaufen, wo sie hohe Preise erzielen - zahlen dort Steuern, wo sie keine (oder kaum) Steuern zahlen müssen.
Auf der anderen Seite macht die überall aus dem Boden kriechende hässliche Fratze des Nationalismus deutlich, wie gross die Angst davor ist, mit den eigenen Problemen übersehen zu werden im grossen Rad der Entscheidungen.
Die Bestandsaufnahme ist einfach - neue Lösungen zu finden, ungleich schwieriger. Aber wir werden in diesem Forum genug Gelegenheit haben, uns die Köpfe heiss zu reden :-) über das, was wir uns als Zukunft wünschen. Der Wille zur Veränderung besteht, ebenso wie die absolute Notwendigkeit der Erneuerung überkommener, längst untauglicher Strukturen. Wäre doch gelacht, wenn wir es nicht schaffen, mit einem einzigen Forum die Welt auf den Kopf zu stellen! :-)


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